Mission Statement
Kurz nach Beginn ihrer Tätigkeit und einer tiefgehenden Analyse der Stadt veröffentlichte die Intendanz Anfang 2006 ein Dokument, das – gleichsam als Mission Statement – sieben Prinzipien für die anstehende Programmgestaltung der Kulturhauptstadt Linz skizzierte. In der Rückschau kann festgestellt werden, dass sich zwischen diesen noch tastenden Formulierungen zu Projektbeginn und der endgültigen Programmdefinition Ende 2008 ein hohes Maß am Übereinstimmung findet.Erstens: Die Stadt Linz und die Region stehen stellvertretend für Österreich im europäischen Rampenlicht und gemeinsam mit Essen, Kulturhauptstadt 2010, auch für den deutschsprachigen Kulturraum. Das heißt, dass die Programmgestaltung in doppelter Hinsicht eine europäische Dimension in Rechnung zu stellen hat: Die Stadt muss sich für internationale KünstlerInnen ebenso öffnen wie für europäische BesucherInnen, die überdies nach 2009 hoffentlich wiederkommen werden. Nur dies stellt den europäischen Mehrwert des Kulturhauptstadtjahres sicher. Zugleich stehen die Ansprüche einer ökologisch orientierten Lebensqualität im Zentrum. Für Linz ist deshalb der Zusammenhang zwischen Industrie, Kultur und Natur von besonderem Interesse.
Zweitens: Für die Linzer und oberösterreichische Kunst- und Kulturszene bietet 2009 eine besondere Herausforderung. Über den kulturellen Alltag hinaus ist deutlich höhere Qualität verlangt. In der Begegnung und Reibung mit Gästen und KünstlerInnen von außen muss die Programmgestaltung deshalb Gelegenheit geben, der Linzer Kultur zwischen Bodenhaftung und Höhenflug neue Möglichkeiten zu eröffnen.
Drittens: Das Programm soll Dimensionen, Fragestellungen und Themen der europäischen Kulturentwicklung aufgreifen, die den Linzer Horizont bereichern. Projekte an der Schnittstelle von Kunst und Kultur zu Wissenschaft, Geschichte, Wirtschaft, Bildung, Stadtentwicklung, Ökologie, Religion, Sozialem, Migration und Sport erheben Anspruch auf neue Wirkungsfelder.
Viertens: Zu berücksichtigen sind die Besonderheiten von Linz und seiner Region im Sinne eines Alleinstellungsmerkmals der Stadt. Denn: Linz entwickelt sich zu einem besonderen Modell der modernen europäischen Stadt. Hier werden Kultur und Wissenschaft nicht wie andernorts auf den Trümmern einer niedergegangenen Industrie zur Identitätsstiftung bemüht. Das neue Linz ist eine in der Mitte Europas gelegene, technologie- und wissensbasierte Industriestadt, die Kultur und Kulturwirtschaft gleichermaßen ernst nimmt.
Fünftens: Thematisch ist das Kulturhauptstadtprogramm so offen als möglich zu halten. Architektur, Arbeit, Industrie, Donau, Hafen, öffentlicher Raum, Stadtgeschichte, Wissenschaft, Bildende Kunst, Medien, Musik, Darstellende Kunst, Literatur, Film, Bildung, Schule, Religionen, Kinderkultur, Jugendkultur, Soziale Randgruppen, Migration, Volkskultur, Tradition, Sport, Tourismus und Gastronomie heißen die Stichwörter zur Klassifizierung.
Sechstens: Ein Programm muss entstehen können, Schritt für Schritt, in einem nach allen Seiten hin offenen Prozess. Aufgrund klarer Vorgaben, gewiss, aber mit großer Bewegungsfreiheit – Schablonen haben da nichts zu suchen. Entsprechend deklariert Linz09 seine Spielregeln: Vorschläge und Konzepte können jederzeit eingereicht werden, es gibt weder Fristen noch Formulare, es gibt keine Quoten und keinen politischen Einfluss. Solange geniale Ideen zeitlich noch realisierbar sind, verdienen sie Zuwendung und Prüfung. Kulturhauptstadt will und braucht den Wettbewerb – aber nicht um jeden Preis.
Siebtens: Die Stadt Linz und das Land Oberösterreich haben sich in den vergangen Jahren intensiv mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt, Aufarbeitung betrieben und Verantwortung übernommen. Angesichts der Bedeutung jener Epoche sowie der besonderen Rolle, die Linz darin zukam, wird die NS-Zeit ein programmatischer Schwerpunkt des Kulturhauptstadtjahres sein – in zahlreichen, unterschiedliche künstlerische Sparten betreffenden Angeboten.
Linz und sein historisches Erbe
Linz09 ist in einer Stadt verortet, deren Geschichte es im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres auf europäischer Ebene wie auch lokal zu thematisieren gilt. Eine wichtige Position nimmt dabei jene Zeit ein, in der die heutige Kulturhauptstadt als „Führerstadt“ galt und umgeben war von einem Ring an Vernichtungsorten (Mauthausen, Gusen, Ebensee und Hartheim). Spuren des Nationalsozialismus sind nicht nur im Umland, sondern auch in der Stadt selbst spürbar und bis zur Gegenwart hin wirksam – in den sogenannten „Hitlerbauten“, in den Industrieanlagen der VOEST (die ihren Ursprung in den „Hermann Göring Werken“ hat) und auch in den Baumaterialien scheinbar unscheinbarer Bauten, die in der NS-Zeit mit Mauthausener Granit gefertigt wurden, der mit dem Leben der KZ-Häftlinge bezahlt wurde.Linz09 tritt nicht mit dem Anspruch an, die Aufarbeitung von Geschichte neu zu erfinden. Es geht vielmehr darum neue Erzählformen zu finden, mittels derer sowohl die regionale Bevölkerung als auch ein Publikum aus ganz Europa angesprochen werden kann.
Linz09 will auf dem Wissensstand einer gründlich erforschten und dokumentierten Geschichte aufbauen und die Auseinandersetzung mit Geschichte und das Wissen um ihre Auswirkungen und ihre Bedeutung bis zur Gegenwart in die Bevölkerung tragen. Es geht hier um eine Geschichte mit europäischer Dimension, nach Mauthausen wurden Menschen aus ganz Europa verschleppt und der spätere Umgang mit den auch hier begangenen Verbrechen und dem diesen zugrunde liegenden Gedankengut beschäftigt die europäische Gesellschaft bis heute.
Dazu ist es unvermeidlich, die eigene Ausgangsposition zu untersuchen und mit grundlegenden Fragen umzugehen: Heute geht es weniger um pure Wissensvermittlung, um Bewältigung und um Schuldfragen als vielmehr um eine Reflexion der Fakten und deren Einbettung in gegenwärtige Fragestellungen. Die Wahrung wissenschaftlicher Korrektheit tritt neben die nach wie vor aktuelle Frage, welche Entwicklungen und soziale Mechanismen die historischen Ereignisse ermöglichten.
Die Fragen an die eigene Geschichte haben sich verändert: Die nationalsozialistische Vergangenheit wird nunmehr auch in ihrer urbanistischen, ästhetischen und künstlerischen Perspektive wahrgenommen, ohne dass dadurch die Gräuel der Vergangenheit relativiert oder ignoriert werden.
Und schließlich geht es auch noch um die Erzählweise an sich: Linz09 wird viele verschiedene Erzählweisen zulassen und fördern, um auf verschiedenen Ebenen zu wirken. Polemisch, sachlich, nüchtern und provokativ kann diese Geschichte angefasst werden. Die Fragen nach den Gründen und der Form dieser Auseinandersetzung werden in einzelnen Teilprojekten von Linz09 unterschiedlich beantwortet. Die Vielfalt an Zugängen wird 2009 in einen Rahmen gefasst, der das ganze Jahr über bemerkbar sein wird und verschiedene Positionen versammeln soll, die das Publikum zur eigenen Auseinandersetzung anregen. Die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Ansätze wird in Hinsicht auf das Gesamtprojekt als Chance verstanden, vorgefertigte, vereinfachende Antworten zugunsten facettenreicher individueller Standpunkte hintanzustellen. Die Auseinandersetzung mit individuellen Standpunkten eröffnet dem Publikum die Chance, eigene Zugänge zu finden, selbstständig an Geschichte zu arbeiten und diese zu verinnerlichen.
Der Erfolg der zeitgeschichtlichen Auseinandersetzung im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres wird letztlich an der Qualität und dem Ausmaß des Eindruckes gemessen werden, der beim Publikum hinterlassen wird und dessen Nachhaltigkeit in Gesprächen, Erinnerungen und in verbreitetem Fachwissen liegen soll, dass auch noch 2015 in den Gesprächen der Stadt eine Rolle spielen kann.