Die Kunstprojekte
Der Fluss Lethe, der antike Strom des Vergessens in der griechischen Unterwelt, der den Toten glückliches Vergessen spendet und in dem schließlich jede Erinnerung untergeht, ist der bildhafte Titelgeber und das Leitmotiv der Ausstellung. Welche Erinnerungen können oder müssen dem Strom des Vergessens entrissen werden? Warum überhaupt? Und auf welche Weise, mit welchen ästhetischen Strategien ist das möglich? 29 internationale Künstler und Künstlerinnen wurden eingeladen, das scheinbar unlösbare Knäuel aus Erinnerung, Gedächtnis, Vergessen und Verdrängung scharf zu beleuchten und einen Beitrag zur Entwirrung zu leisten.Arbeiten von Ursula Witzany (2) und Ruth Schnell (24) bilden den atmosphärischen Rahmen der Ausstellung. Während Witzanys Schattenläufer die BesucherInnen in den Stollen zum Prolog wie in ein Totenreich begleiten und ihre Luster die Betongänge in eine Passage nostalgisch erinnerter Festlichkeit verwandeln, scheuert Schnells projizierter Frauenarm abschließend, nach absolviertem Rundgang, über Boden und Wände des Stollens, wie um etwas zu beseitigen oder aber, im Gegenteil, um neue Schichten freizulegen. Spurensuche oder Spurenbeseitigung? Das Knäuel von Erinnern und Vergessen bleibt am Ende unentwirrbar.
Mit dem privaten Vergessen beschäftigen sich die Ausstellungsbeiträge von Kruno Stipesevic (12) und Joanna Dudley (6). Schon Schopenhauer bemerkte in seiner kruden Art, „dass unser Gedächtnis einem Siebe (gleicht), dessen Löcher anfangs klein, wenig durchfallen lassen, jedoch immer größer werden und endlich so groß sind, dass das Hineingeworfene fast alles durchfällt.“ Während sich Stipesevic in seiner Installation „Alzheimer Phase III“ mit (leeren) Post-it-Zetteln gegen das Vergessen wehrt, lässt Dudley in „Tom’s Song“ auf verschiedenen Tonträgern immer wieder jenes einzigen Lied ablaufen, das dem Großvater der Künstlerin, der unter Gedächnisverlust leidet, geblieben ist. Tim Sharp (13) montiert in „The Trapdoor“ – was sich auf Deutsch als „Versenkung“, aber auch „Falltüre“ übersetzen lässt – private Aufnahmen von Amateurfilmern. Sie werden in wiederkehrenden Mustern so aneinandergereiht, dass sie das Private verlieren und wie Dokumente einer kollektiven Alltagsgeschichte wirken.
Die belgische Künstlerin Sarah Vangat (4) zeigt dagegen auf eindrucksvolle Weise in einer dreiteiligen Videoinstallation, dass das Erlernen der Sprache eine Insel, um nicht zu sagen ein Bollwerk im Strom des Vergessens bilden kann.
Der normale Alltag braucht keine Erinnerung – oder doch? Der englische Arzt Arthur Conan Doyle bewunderte jedenfalls bereits 1887, lange vor der modernen wissenschaftlichen Hirnforschung, die Fähigkeit unseres Gehirns, Dinge vergessen zu können. „Nur ein Narr“, bemerkte er lapidar, „nimmt allen Plunder auf, über den er stolpert“. Zu solchem „Plunder“ würden wir z.B. auch die täglichen Lebensmittelrechnungen zählen, die nach der Kontrolle in der Haushaltskassa normalerweise dem Vergessen anheim fallen. Thorsten Goldberg (3) zeigt einen anderen Weg. Er sammelt und arrangiert diese Überbleibsel des Konsums zu einem eindrucksvollen Grabungsfeld des Alltages. Eine gegensätzliche Strategie verfolgt Xuan Kan (25). Sie präsentiert alltägliche Dinge – vor allem Lebensmittel - auf völlig ungewohnte Art und Weise, die sie uns fremd macht und dadurch einen „neuen“ Erinnerungsraum öffnet.
Vergessen ist auch ein Vorgang der Auslöschung, mit dem ein Verlust von Bildern einhergeht. Wir geraten, paradox genug, in einen Zustand der Abstraktion. In guter Erinnerung ist noch das pixelige Rauschen des Fernsehers nach Mitternacht, zu einer Zeit, als die Programme noch nicht 24 Stunden durchgelaufen sind. In einer Reihe von Kunstprojekten werden solche Abstraktionsmodelle des Vergessens durchgespielt und leitmotivisch in der Ausstellung verteilt. Gewissermaßen das Herz der Ausstellung ist der verdichtete, pulsierende, Licht-Nebelraum von Kurt Hentschläger (18). Die BesucherInnen sind einer intensiven Körpererfahrung ausgesetzt, schwankend zwischen Orientierung und Orientierungslosigkeit. Auch Ruth Schnells (11) Leuchtstäbe bleiben für den Betrachter zunächst abstrakte Objekte, ehe sie sich beim Vorbeigehen plötzlich in Lichtwörter verwandeln, die hologrammartig beim Drehen des Kopfes erscheinen und gleich darauf wieder verschwinden. Herwig Turks (14) Salzwüste ist eine weiße Landschaft, in der haptisches Raumerlebnis und abstrakte mediale Bilder ineinander übergehen und sich gegenseitig verstärken. Renate Herters (9) Bodeninstallation fügt sich Weiß in Weiß gehalten perfekt in den Stollen ein und irritiert durch den kaum wahrnehmbaren Übergang vom festen Boden zum „Fluss“: Ein bis zum Rand gefülltes Becken wird kontinuierlich von einem Rechen durchpflügt. Dem gegenüber operieren Anne und Patrick Poirier (10) mit der Materialfülle unserer Medienwelt und inszenieren aus Recycling-Material einen gestörten, zerbrochenen Erinnerungsraum: Die Besucher schreiten auf einem schmalen Pfad zwischen gepresste Papierballen durch eine Scherbenlandschaft, gespiegelt und erleuchtet von Sätzen wie „Es ist nicht mehr möglich, eine Welt zu porträtieren, die sich selbst in die Luft jagt.“
„Niemals vergessen!“ ersetzt als Leitparole den Faschistenspruch „Arbeit macht frei!“ am Zugangstor zum Vernichtungslager Mauthausen beim jährlichen Gedenkmarsch der AntifaschistInnen und KZ-Opferverbände am 4. Mai. Die Erinnerung an vergessene und verdrängte „Ereignisse“ im Nationalsozialismus und die Analyse seines Vernichtungs-Systems stehen im Mittelpunkt einer ganzen Reihe von Arbeiten. Sie verknüpfen gewissermaßen Inhalt und Ort der Ausstellung.
Die Erkenntnis, dass gerade auch das Erinnern subjektiv ist und wie jede Geschichte (Re)Konstruktion darstellt und divergierende Kontexte seine Bedeutung stets aufs Neue festlegen, ist dabei bestimmend für die Auswahl und den Umgang der KünstlerInnen mit dem “historischen Material“. Der Schriftsteller Heimrad Bäcker (1) zitiert und montiert in seinen „konkreten“ Texten nationalsozialistische Dokumente, ohne fiktionale Elemente hinzuzufügen. In einer Leuchtschriftpräsentation fährt ein solches bürokratisches Wortungeheuer im Stollen den BesucherInnen entgegen und verschwindet wieder (AUSROTTUNGSERLEICHTERUNGEN). Eine andere Montagetechnik benützt der Schriftsteller Walter Kempowski (22), der aus einer gewaltigen Fülle privater Dokumente, jeden einzelnen Tag, von Dezember 1944 bis Februar 1945 rekonstruiert. Er schafft damit ein kollektives Tagebuch, das unter dem bezeichnenden Titel „Echolot“ veröffentlicht wurde und in Auszügen in der Ausstellung präsentiert wird. Dokumente sind auch das Ausgangsmaterial einer Installation von Peter Weibel (23), der die Lebensdaten von über 2.500 jüdischen WissenschaftlerInnen, ÄrztInnen, KomponistInnen etc. zusammengetragen hat, die das Leben der Zwischenkriegszeit in Österreich maßgeblich geprägt haben und von den Nazis in den Tod oder ins Exil getrieben wurden. Sie laufen wie ein medialer Strom gegen das Vergessen über ein Band von Monitoren.
Die Künstlergruppe alien productions (0) (Martin Breindl, Norbert Math, Andrea Sodomka) erinnert hingegen atmosphärisch in einer Toninstallation u. a. an die Geräusche im Stollen während der Bombenangriffe, die sie aus Erzählungen von ZeitzeugInnen rekonstruieren. Es ist die einzige Arbeit, die sich unmittelbar auf die Funktion des Ortes bezieht. Die Interviews mit den ZeitzeugInnen selbst werden in einem eigenen Ausstellungsbeitrag von alien productions im OK präsentiert.
„Jede Erinnerung ist stets Gegenwart, nie Vergangenheit. Sie ist Schöpfung, Konstrukt.“ konstatiert der Historiker Johannes Friedl in seinem Buch „Der Schleier der Erinnerung“. Dieser Rekonstruktionsvorgang selbst ist ein wichtiger ästhetischer Bestandteil der Arbeiten von Klub Zwei (Simone Bader und Jo Schmeiser) (19) und Vera Frenkel (20). Vera Frenkel, die Grande Dame der kanadischen Gegenwartskunst, macht in ihrem großangelegten, multi-medialen und facettenreichen Kunstprojekt über die verschwundene Raubkunst der Nazis stets klar, dass sie vom hier und heute aus „erzählt“ und rekonstruiert. Klub Zwei beschäftigen sich in ihrer Videoarbeit „Schwarz auf Weiß“ unmittelbar mit Fragen der Erinnerungskultur am Beispiel des Umganges mit historischen Fotodokumenten des Holocaust – und zwar mittels eines radikalen Entzugs jener Bilder, von denen im Film die Rede ist.
Die Verortung in der Gegenwart und in vielen Fällen die Verknüpfung mit der eigenen Biografie ist ein wichtiger inhaltlicher Brennpunkt einer Gruppe von künstlerischen Arbeiten, die sich mit sehr spezifischen politischen Ereignissen der jüngeren Vergangenheit beschäftigen und sie aus dem Strom des Vergessens heben. So wirft Hito Steyerl (15) in der Rekonstruktion einer bosnischen Filmmonatsschau aus dem Jahr 1947 durch die Montage- und Interviewtechnik auch einen „Blick“ auf heutige Denk- und Gesellschaftsstrukturen in Ex-Jugoslawien. Und Chen Chieh-jen (16) antizipiert Erlebnisse und Phantasien aus der eigenen Kindheit in Taipeh, wenn er die Geschichte des Gebäudes gegenüber mit den Methoden des Re-Enactments, des Nach-Spielens, rekonstruiert: Dort befand sich ein Militärgericht und Gefängnis, in dem die politischen Gegner des antikommunistischen Miltärregimes in Taiwan bis 1987 festgehalten wurden. In Lida Abduls (8) eindringlichen, dokumentarischen Filmparabeln erscheinen die Kinder als Hoffnungsträger in der von Gewalt geprägten und traumatisierten afghanischen Gesellschaft; einer Gesellschaft, die sie selbst als Kind nach dem Einmarsch der Sowjets 1979 verlassen hat. In ihrer neuen Arbeit „In Transit“ wird ein zerschossenes russisches Flugzeugwrack von spielenden Kindern in einen Drachen ‚verwandelt’. In Selja Kameric (7) Videoprojektion „Dreamhouse“ wird eine Flüchtlingsbaracke digital in eine Szenerie wechselnder Landschaften transferiert, ein traumhafter Zustand zwischen Aufbruch und Gefangensein. Kameric selbst hat die Kriegsereignisse als Jugendliche im belagerten Sarajewo erlebt.
Denkmäler sind ein wichtiger Bestandteil der Gedächniskultur. Ihre klassische „feste“ Form ist für die moderne Kunst problematisch geworden, weil sie eine einzige Erinnerungsperspektive gewissermaßen “einfriert“ und kaum mehr Bedeutungsverschiebungen zulässt, wenn das Denkmal einmal steht (außer es wird gestürzt). Diesen Denkmalkult ironisiert Fernando Sanchez Castillo (21), der die Kopie einer Reiterstatue des Diktator Franco gegen Bezahlung - wie den bösen Geist in der Flasche - aus dem Sockel fahren lässt . Ein „Denkmal“ der ganz anderen Art setzt Christoph Draeger (5) afrikanischen Flüchtlingen, die mit einem Fischerboot an der Küste Teneriffas gestrandet waren. In der (zeitlich begrenzten) Installation der bunt bemalten, zerschlagenen und wieder zusammengesetzten Bootsplanken am tiefsten Punkt des Stollens überlagern sich die Bedeutungen: Es ist lesbar als Erinnerungszeichen ebenso wie als eindrucksvolles, bunt bemaltes Wrackteil, aber auch, im örtlichen und inhaltlichen Kontext der Ausstellung, als Fährschiff über den mythischen Fluss Styx, der die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich markiert. Der ironisch klingende Titel „Warten auf Sindbad“, für den sich der Künstler entschieden hat, öffnet Kontexte in eine weitere Richtung.
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