Kirche und Kultur
Martin Heller schaut über den Tellerrand des Kulturschaffenden hinaus und wirft einen Blick auf die Kirche als eminent kulturelles Thema. Ergebnis seiner Überlegungen ist der Vortrag „Kirche und Kultur. Oder: Was sagt uns das Spaghettimonster“, der im Januar 2006 auf der Zürcher Tagung "Wo findet Kirche heute statt" gehalten wurde.
Kirche und Kultur. Oder: Was sagt uns das Spaghettimonster?FDP Kanton Zürich, Tagung „Wo findet Kirche heute statt?“
28. Januar 2006
Einführungsreferat von Martin Heller in Zusammenarbeit mit Plinio Bachmann
Die Ausgangslage
Warum nehme ich die Einladung, ein Referat über die gesellschaftliche Rolle der Kirche in unserer Gegenwart und Zukunft zu halten, überhaupt an? Immerhin bin ich – nach einer zutiefst katholischen Kindheit und Jugend – vor über zwanzig Jahren aus der Kirche ausgetreten. Und meine Besuche in Gotteshäusern beschränken sich, altersbedingt, mehr und mehr auf Beerdigungen und, seltener, Hochzeiten. Nun – es gibt mindestens zwei Gründe.
Erstens verspreche ich mir, durchaus eigennützig, aus der Beschäftigung mit diesem Thema einen Beitrag an die Klärung meiner eigenen Identität. Die Situation der Landeskirchen – das könnte eine erste kleine These sein – betrifft nämlich alle: Kirchgänger, Kirchenmuffel, Fremdgänger.
Und zweitens: Meine Heimat und zu einem guten Teil mein Brot ist die Kultur. Und – das geht mit der Ausgangsthese einher – die Kirche ist ein eminent kulturelles Thema. Also wollen wir uns von dieser Seite her einmischen, wollen mitreden. Als Kulturakteure sehen wir da einen beträchtlichen Reflexions- und Handlungsbedarf.
Allerdings ist es nicht einfach, über die Kirche zu reden, wenn das eigene Verhältnis zu ihr weder durch Glaube, Amt oder Beruf eindeutig geregelt ist. Umgekehrt bleibt trotz meiner Distanz zu den Kirchen als Institutionen das Gefühl einer gewissen Kompetenz, über sie nachdenken und reden zu können. Meine Gefühlslage schwankt also zwischen Sicherheit und Unsicherheit; das Verhältnis zwischen Selbstbild und Fremdbild muss geklärt werden.
Von Fischen, Fischern und Landratten
Erst soll deshalb, als Voraussetzung für diese Klärung, eine Szenerie entwickelt werden. Ein Bühnenbild, in dem sich jeder selbst positionieren kann: Es besteht aus einer Landschaft – nennen wir sie „Kultur“. Darin gibt es einen Teich, gesäumt von Schilf; kein scharfes Ufer, also eher ein sumpfiger Bereich. Dieser Teich ist in unserer Szenerie der Bereich des Religiösen.
Ich selbst stehe auf einer trockenen Anhöhe, am Uferrand. Von außen schaue ich zu, wie im Teich die Menschenfischer am Werk sind. Sie stehen in verschiedenen Booten; die einen werfen Angeln aus, die auf Individuen zielen, andere feinmaschige Netze, um ganze Schwärme einzufangen. Techniken und Köder unterscheiden sich also in beträchtlichem Maße. Ungleich ist auch der Erfolg: Manche haben ihre Boote voll, anderen schwimmt der Fang schwarmweise davon.
Sie kennen die Metapher. Sie verdankt sich jenem epochalen Buch, das viele die Heilige Schrift nennen, und das für mich ein von Menschen sorgsam tradiertes und streng redigiertes Konvolut aus Allegorien, Biografien und Gedichten zum richtigen Leben darstellt.
Aus dem See von Galiläa ist hier ein Teich geworden, eingebettet in eine Kulturlandschaft. Menschenfischer sind alle, die ein Heilsangebot haben, die den „richtigen Weg“ weisen und den einzelnen Menschen dem Göttlichen vermitteln: die staatlichen Kirchen, freikirchliche Gemeinden, andere Religionen, Splittergruppen, Sekten.
Dieser Teich kommt in anschaulicher Weise zur Abbildung im unlängst erschienenen „Religionsführer Zürich“ – einem umfassenden Handbuch zur Zürcher Menschenfischerei.
Das Buch mit dem wasserblauen Umschlag ist beeindruckend, weil es auf 600 sachlich verknappten Seiten enzyklopädisch das menschliche Streben zu Gott und das Ringen um Einbürgerung in einer spirituellen Heimatgemeinde dokumentiert. Darf man einmal
annehmen, dass alle irgendwie dasselbe suchen?
Alle Teichlinge, Fischer wie Fische, wissen um Gott, suchen ihn immer neu oder haben ihn längst gefunden. Sie leben im unerschütterlichen Glauben an ihn oder in ständig bohrendem Skeptizismus. Sie leben in ihm, dank ihm, durch ihn, für ihn – je nach Bürgerort greift hier ein anderer Dialekt. Es sind Menschen, die in ihrem Verhältnis zu Gott Anleitung, Vermittlung und Know-How suchen, oder schlicht in Tradition und unhinterfragter Prägung leben – aktiv Suchende, unsicher Tapsende, glücklich Angekommene. Insgesamt aber Menschen, die ihr Verhältnis zu Gott in Gemeinschaft mit anderen, Gleichgesinnten erleben wollen. Nennen wir sie einmal neudeutsch Menschen, die ihr Spiritualitätsmanagement unter Zuhilfenahme von Supervisionsgruppen, Mediatoren und Kommunikationsberatern betreiben.
Zurück aufs Festland, wo eine andere Spezies lebt. Es gibt nicht wenige Akteure in unserer Szenerie, die außerhalb des Teichs existieren. Und das meint nicht: auf dem Trockenen gestrandet, japsend und erstickend. Mir geht es gut auf meinem Hügel. Ich bin Außenstehender durch Entscheid. Und ich habe sogar einen Glauben, auch wenn ich mir den Luxus leiste, ihn nicht einmal vor mir selber stringent auszuformulieren. Denn ich bin – wie oben ins Neudeutsche übersetzt – ein spiritueller Ein-Mann-Betrieb, nur mir selbst verantwortlich.
Auch für Uferlinge wie mich gibt es Momente, die dem religiösen Grunderlebnis vergleichbar sind, ob es nun Erleuchtung oder mystische Kommunion heißt, Ekstase, göttliche Leere, Inspiration durch den heiligen Geist oder Angeschlossenheit ans Weltganze. Für die Uferlinge können das Momente der Stille sein, vielleicht unter klarem Sternenhimmel, das Versinken in einem grandiosen Kunstwerk, hellsichtige Augenblicke im Vollrausch, in der Yogastunde oder beim Musik hören. Der Unterschied ist nur: Die Einsichten aus diesen Momenten werden nicht in feste Formeln gegossen, und sie bleiben Privatsache. Ich suche keinen Anschluss an Gleichgesinnte. Ich bin es zufrieden, mit meinem sporadisch auftretenden All-Gefühl alleine zu sein. Gottesvermittler sind in meinem Leben keine Instanzen, weil es in meinem persönlichen Haushalt keinen Bedarf nach ihnen gibt.
Auch unter den Außenstehenden gibt es übrigens verschiedene Ausprägungen. Die einen stehen bis zu den Knöcheln in der sumpfigen Uferzone, die andern lagern weit weg vom Teich, an Fischerei und Teichfauna nicht einmal interessiert. Aber alle sind sie Teil desselben Landstrichs.
„Kulturchristen“ und religiöse Christen
Was man natürlich fragen darf: Die Tatsache, dass ich mich aufgehoben fühle und als Teil eines größeren, letztlich sinnvollen Ganzen fühle, dass ich als kleines Menschenwesen kurze Ausblicke auf dieses große Etwas hinter den täglichen, chaotischen Akzidenzien habe – verdanke ich solche Heimatlichkeit im Grunde nicht auch dem Teich und seinem Wissen?
Das Christentum mit seiner Weltanschauung, seinen Werten, seinen Allegorien ist eben mehr eine Religion – es ist eine ganze Kultur. Eine Kultur, die selbst jene mitprägt, die nicht an ihren Offenbarungskern gebunden sind. Wer kann beispielsweise in der westlichen Welt schon den Mund auftun, ohne in Bibelzitaten zu sprechen? Unser ganzes Lebensgefühl ist christlich geimpft. Das Wasser aus dem Teich tränkt die ganze Landschaft.
Oder verhält sich die Sache gerade umgekehrt? Verdankt sich das Christentum einem anthropologischen Grundreflex, hinter alles Zufällige einen Sinnzusammenhang zu projizieren? Dann wären Religionen ein kultureller Ausdruck, und ihre Ausformungen wären Zeichen des Entwicklungsstandes der Zivilisationen, aus denen sie entstehen. Das Wasser sammelt sich am tiefsten Punkt unserer kulturellen Topografie.
Indessen interessieren mich solche Huhn- und Ei-Abklärungen nicht nur an dieser Stelle wenig; wichtiger ist die Frage, ob und inwiefern die verschiedenen Akteure sich als Teil derselben Landschaft begreifen. Da stehe ich am Ufer des Teiches und schaue mit teilnehmendem Interesse zu, wie Fischerei betrieben wird. Was fange ich mit den Teichlingen an? Was haben wir miteinander zu tun? Erlaubt mein Blick vom Ufer Einblicke in Zusammenhänge, die denen im Teich zwangsläufig verborgen bleiben? Was fangen die Fischer nun mit mir an? Ist es für sie in Ordnung, dass ich nie in ihr Netz schwimmen werde und umgekehrt; oder ist das ein nicht zu tilgendes Skandalon, unvereinbar mit dem Kern ihrer Heilslehre? Sehen sie mich als Verlorenen, als zu Gewinnenden oder schlicht als freundschaftlichen Nachbarn, mit dem es sich lohnt, ins Gespräch zu kommen? Wie halten und wie handeln wir gegenseitig unsere Nähe und unsere Ferne aus?
Das Spaghettimonster
Im Zusammenhang mit der erwähnten Regulierung der Nachbarschaftsverhältnisse kommt das Fliegende Spaghettimonster ins Spiel. Denn das Spaghettimonster ist der Dämon einer Eskalation.
Bobby Henderson, ein 25-jähriger arbeitsloser Physiker und Piratenfan in Oregon, USA, hat eine neue Religion gestiftet: die Lehre vom Intelligent Design durch das Fliegende Spaghettimonster.
Mit ätzender Satire reagiert er damit auf die Zunahme an Einfluss fundamentalistischer Christen auf die amerikanische Politik. In Kansas sollte wie schon in anderen Staaten die Lehre vom Intelligent Design als gleichberechtigte wissenschaftliche Theorie neben dem Darwinismus in den Lehrplan der Schulen aufgenommen werden. Der Mensch, so die Kreationisten, deren Argumente im Discovery Institute in Seattle geschmiedet werden, ist wie alles andere auf der Welt das Produkt eines Designprozesses, der so komplex ist, dass es dazu eine höhere Intelligenz braucht – nämlich Gott. Wobei dieser letzte Schluss nie explizit formuliert wird.
Denn der Trick der Kreationisten besteht genau darin, den Darwinismus nicht mehr als einen falschen Glauben gegen den eigenen, der Genesis verpflichteten Glauben auszuspielen. Stattdessen stecken sie ihre Buchstabentreue an die Genesis ins Gewand einer Wissenschaft und reklamieren für diese den angemessenen Platz als „alternative wissenschaftliche Theorie“ neben der darwinistischen.
Also bastelte Henderson, der Argumentation der Kreationisten haargenau folgend, aus echten Daten eine falsche Wissenschaft. Die Wissenschaft behauptet einen direkten Zusammenhang zwischen der Abnahme von Piraten seit 1800 und der globalen Klimaerwärmung, leitet daraus wiederum pseudowissenschaftlich die Existenz des fliegenden Spaghettimonsters und empfiehlt diese als „alternative wissenschaftliche Theorie“ zur Aufnahme in den Lehrplan.
Bobby Henderson richtet sich mit seiner Aktion nicht gegen den Glauben als solchen, sondern entlarvt den Versuch der Kreationisten, die verfassungsmäßig garantierte Glaubensfreiheit mit einem faulen Trick zu unterwandern.
Wie können wir das, was da geschieht, verstehen? Eine Gruppe aus dem Teich versucht mit aggressiven Mitteln, den Außenstehenden ihr Credo als Schulstoff einzuimpfen und staatlich festzuschreiben. Und ein Außenstehender schießt mit den Mitteln der künstlerisch-politischen Aktion zurück.
Da haben wir es hier, am Ufer unseres spezifischen Zürcher Teiches, weitaus friedlicher. Schließlich genießen wir den Umstand, dass die für Europa seit der Aufklärung typische (und in den USA so nicht existierende!) Trennung von Kirche und Staat unsere Ansicht schützt, dass religiöse Gefühle Privatsache seien. Die Schilfzone zwischen Staat und Religion ist ein sehr sensibles und zivil ausdifferenziertes Feld, wie eine kürzlich engagiert geführte Auseinandersetzung mit glücklichem Ausgang zeigt: der Streit ums Schulfach Biblische Geschichte. Aber davon nachher mehr.
Bewegung am Markt der Heilsangebote
Weniger friedlich geht es im Teich selbst zu. Hier brodelt es schon tüchtig. Deshalb ist zur Klärung präzieser darzulegen, was bisher pauschal „der Teich“ genannt wurde – damit wir nicht länger im Trüben fischen.
Würden wir über Politik reden, dann könnten wir mit Blick auf den Teich feststellen: Die Parteien der Mitte leiden unter akutem Mitgliederschwund, ihre Wähler suchen Anschluss bei den vereinfachenden Populisten, extremen Splitterpositionen und monothematischen Interessenverbänden. Für die religiösen Fischbestände gesprochen: Die Landeskirchen schmelzen dahin wie die Gletscher im piratenschwundbedingten Treibhaus, was bedeutet, dass viele Menschen mit dem vorher beschriebenen Vermittlungsbedürfnis Anschluss suchen bei charismatischen Freikirchen, Sekten und säkularen Ersatzritualen der Konsumwelt.
Von außen lässt sich – kühler vielleicht als aus einem der Boote heraus – feststellen: Wenn die Fische insgesamt nicht weniger werden, sondern anderen Fischern ins Netz gehen, dann stimmt etwas mit dem Köder nicht. In Marktsprache: Das ist keine Kundschaft, die sich anschickt, den Teich zu verlassen; da geht es um die Verteilung bestehender Bedürfnissen auf bessere Angebote. Aus meiner Sicht: Kirchen sind das Display göttlicher Inhalte. Also stimmt möglicherweise etwas nicht mit dem Platz und der Vermittlungsqualität dieser Inhalte und dazu kann ich als Ausstellungsmacher auf jeden Fall etwas sagen.
Kommt dazu, dass religiöse Ereignisse immer auch ästhetische Ereignisse sind, und zwar im doppelten Sinne: Aisthetisch im ursprünglichen Verständnis: die Sinne betreffend. Die Schöpfung war ein Wort, Offenbarungen sind Visionen, Propheten hören Stimmen von oben, Mönche lauschen inneren Stimmen nach, Dämonen brennen wie Feuer auf der Haut und wenn der Teufel kommt, dann stinkt es nach Schwefel.
Aber auch ästhetisch im allgemein gebräuchlichen Sinn: Gottesdienste haben eine explizit ästhetische Seite. Sie sind Inszenierungen, Vermittlungen mit Mitteln der Schönheit, der Irritation, der Überzeugungskraft von Worten, der Nachdenklichkeit, der Stille – als möglichst ansprechende, möglichst anschauliche, möglichst verständliche Exposition zentraler Inhalte.
Wenn meine These stimmt, dass alle Teichbewohner im Grunde dasselbe suchen, dann hängen Mitgliederschwund und Mitgliederzulauf direkt auch mit der ästhetischen Qualität der religiösen Praxis, mit den rhetorischen Strategien der Gottesdienste, mit der ganzen Erscheinungsform einer religiösen Gruppe zusammen. Offenbar müssen Kirchen ihrer Gemeinde abgesehen von der Rettung der jeweiligen Seelen etwas zusätzliches bieten. Das ist das Fazit der Veränderung von autoritären Staatskirchen zur Positionierung einzelner Gruppen am liberalisierten Markt der Heilsangebote. Aber was sollen sie bieten?
Beispiel für eine Glaubensgemeinschaft, die sich offensichtlich zwecks Mitgliedererwerb die Einsichten von Markt- und Trendforschung fruchtbar gemacht hat, ist der ICF – International Christian Fellowship. Ein in 12er-Zellen organisiertes Gemeindesystem, das als erste mir bekannte Kirche ein explizites Kundenprofil ausformuliert hat.
Gaby (28) und Max (29) sind fiktive Prototypen, die in griffiger Weise das Missionspotenzial für den ICF ausformulieren: Sie sind jung, erfolgreich im Beruf und gern gesehene Party-Gäste, leiden jedoch an privaten Defiziten und an einer gewissen Leere. In einem kürzlich auf SF DRS ausgestrahlten Dokumentarfilm über des Schweizers Verhältnis zu Gott war eine dieser Gabys zu sehen.
Gaby lebt mit ihrem Freund, einem DJ oder Musiker, in einem chic eingerichteten Haus, das ihren Eltern gehört: Designermöbel, Plasmabildschirm und teure Klamotten. Dem Filmer gegenüber verhielt sie sich sehr tolerant und zweifelte keinen Moment daran, dass auch er als Außenstehender ein glücklicher Mensch sein könne; in ihre eigene Leere jedoch sei Gott getreten. Im Film zu sehen waren auch Gottesdienste des ICF, die Benefizkonzerten zu Gunsten des lieben Gottes gleichen.
Der ICF ist die am schnellsten wachsende Glaubensgemeinschaft in der Schweiz. Den Mitgliedern dieser hippen, schwungvollen Jugendbewegung ist die Zugehörigkeit offensichtlich den Zehnten ihres Lohnes wert.
Ist das vergleichbar mit den Gospelchören schwarzer Kirchgemeinden, die Gott nicht in meditativer Stille und Anbetung eines Leidenden, sondern in kollektiver Freude und mit swingender Musik als Retter und Lebensspender verehren? Vielleicht, und für einen spezifischen Teil der Gesellschaft. Dennoch wird man den Verdacht nicht los, dass beim ICF die Ewigkeit als ultimatives Konsumangebot zelebriert wird.
Allerdings: Wenn ich das so formuliere, ertappe ich mich sofort bei der Vermutung, dass man Innigkeit und seelische Offenheit eher mit Stille und Kontemplation als mit fetzigen Sing-Alongs erreicht. Womit ich ja schon päpstlicher wäre als der Papst. Sicher ist aber: Der ICF macht den Landeskirchen zu schaffen.
Mit etwas Distanz kann man zwei Dinge feststellen: Die Landeskirchen sind out und: Glauben ist in. Gemäss dem erwähnten Film beten in der Schweiz neun von zehn Menschen, und vier von fünf bekennen sich zu einer Religion. Der Teich schrumpft also definitiv nicht, aber die gleichen Bedürfnisse verteilen sich auf andere Angebote.
Im Kulturbetrieb kennen wir dieses Problem sehr wohl: wie verführen wir ein zahlenmäßig konstantes Publikum dazu, sich angesichts eines immer breiteren Angebots unseren differenzierten Inhalten zu widmen? Was tun, wenn sie den Weg „des geringeren Widerstandes“ gehen, also lieber vor dem Fernseher sitzen, als unsere Ausstellungen und Konzerte zu besuchen?
Meinungsumfragen und Zielgruppenprofile helfen da wenig. Schließlich haben wir Inhalte, die wir vermitteln wollen, und deren Flexibilität ist keineswegs beliebig groß. Wir können uns nicht nach allem strecken, was wir beim Publikum an konkreten Erwartungen vermuten.
Aber wir können uns qualitativ verbessern. Im festen Glauben daran, dass sich Qualität längerfristig durchsetzt – unter anderem deshalb, weil unser Publikum intelligent ist. Und wir können versuchen, nicht nur jenes Publikum anzusprechen, das wir ohnehin schon haben, sondern eine Plattform zu sein, deren Thema die ganze Öffentlichkeit betrifft. Auf die Kirche bezogen: Es geht also nicht darum, das Pfingstwunder mit den Taschenspielertricks der Marktstrategen besser an den Mann zu bringen. Sondern um die Verbesserung der eigenen Performance, eine Präzisierung des eigenen Auftritts und eine Einmischung ins öffentliche Gespräch. Wenn sich die Landeskirchen selber mehr als lebendigen Teil des Kultur- und nicht bloß des Heilslebens begreifen, dann gewinnen sie an Attraktivität. Im Teich selbst, und mit Ausstrahlung auf die Uferzone sowie die gesamte Landschaft.
Intelligentes Design des Gottesdienstes
Hier ist nun tatsächlich Intelligent Design gefragt. Aber in diesem Fall eben ein intelligentes Design der Gottesdienste, der Gotteshäuser. Das Problem ist längst erkannt. In den innerkirchlichen Gremien, Organen und Veranstaltungen wird heftig darüber geredet. Die Einrichtung von Anlaufstellen zur vereinfachten „Einbürgerung“, Bahnhofskirchen und Internetseelsorge sind Zeichen, die davon nach außen dringen.
Ein anderes Zeichen ist der seit Jahren spürbare Versuch, die Kirche alltäglicher zu machen. Pfarrer reden Schweizerdeutsch und sind dein bester Kumpel. Das halte ich für völlig verkehrt. Gottesdienste müssen nicht versuchen, vom profanen Alltag möglichst ununterscheidbar zu werden. Sie müssen präzis dosierte und konsequent durchgezogene Rituale, auf den Punkt gebrachte Inszenierungen bleiben. Sonst leisten sie eben gerade nicht das, was man doch von ihnen erwarten darf: zu verführen, zu transzendieren, damit Raum für große Gedanken entsteht, dahin gehend, eine Weile den Alltag. Die Mittel dazu sind bei jeder Kirche wieder anders. Die Protestanten beispielsweise verzichten – abgesehen von der Musik – auf die gängigen Mittel der Betörung. Kein berauschender Duft, kein ornamentales Blendwerk, keine Bilder. Stattdessen das Wort: von den Lippen des Predigers zum Verstand des Zuhörers und von dort – im besten Fall – direkt ins Herz. Aber warum, um Himmelswillen, sind dann so viele protestantische Pfarrer rhetorisch derart schlecht ausgebildet? Warum sind sie – wenn es schon heißt: sola scriptura – keine Meister des Wortes, sondern bestenfalls Amateure? Natürlich haben Pfarrer noch andere Aufgaben als das Predigen. Nur finden die meistens innerhalb der schon bestehenden Gemeinden statt. Die Predigt wäre doch gewissermaßen das Aushängeschild gegen außen, der öffentlichste Ort der Kirche. Warum wird nicht besser gepredigt?
Warum hat man überdies, auch in katholischen Kirchen, so oft das Gefühl, die Liturgie sei eine eher zufällig wechselnde Aneinanderreihung von Gerede und altmodischer Musik und kein straffes, in sich konsequent konzipiertes Ritual, dessen Spannungsbogen von Anfang bis Ende zwingend durchgezogen ist?
In Inszenierungen geht es um Präzision. Da kann mit etwas Licht und ein paar richtigen Entscheidungen unheimlich viel erreicht werden. Künstler, Musiker sind Spezialisten in Rauminszenierungen.
Fragen wir also weiter: Warum gibt es neben den Kirchen, in denen der traditionelle Gottesdienst auf unbequemen Holzbänken, unter Hängelampen aus den 70er und angestaubten Topfpflanzen aus den 90er, mit Liedern aus einem überlebten Gesangsbuch (zur Begleitung von Hobby-Organisten) zur Aufführung kommt, kaum Gotteshäuser, in denen mit neuen Formaten experimentiert wird? Kirchen der Stille zum Beispiel, in denen in der Lunchpause auf bequemen Liegebänken die (göttliche?) Ruhe genossen werden kann? Kirchen, deren Architektur sich zu meditativen Ambient-Sound-Installationen auch nach Mitternacht und bei angemessener Ausleuchtung erfahren lässt? Kirchen, die etablierte Orte für Diskussionen zu politischen und ethischen Fragen darstellen und dieser Aufgabe entsprechend eingerichtet sind?
Es geht nicht darum, die Kirchen dem Schoß der Erlebnisgesellschaft zuzuführen. Aber selbst der karge protestantische Gottesdienst ist – auch – eine Inszenierung. Wenn die Landeskirchen sich in diesem Sinne bei absoluter Treue zu ihren Inhalten einer zeitgenössischen Ästhetik öffnen würden, so meine Vermutung, dann wären ihre – ja, wir sind immer noch im und am Teich – Fischbestände treuer.
Gäbe es bei den Landeskirchen einen Ort als Teil ihres ganzen ausdifferenzierten Systems von Orten, der mich aus dem Alltag auskoppelt, der der durchökonomisierten Welt draußen einen „anderen“ Ort entgegenstellt und sich in einem allgemeineren Sinn mit Werten, die uns alle betreffen, auseinandersetzt: und dann wäre unsere Nachbarschaft lebendig, dann könnte ich ihr Gast sein. Zugleich – und das wäre das Interessante daran – gäbe es damit einen Ort, wo das Verhältnis von mir als „kulturellem“ Christen und den „religiösen“ Christen konkret ausgehandelt, bespielt, hinterfragt würde.
Wer wir sind und wie wir die anderen verstehen
Das führt mich zum letzten Thema dieser Einführung in den heutigen Tag: Das Schulfach „Religion und Kultur“. Ich hatte es vorher schon angedeutet: Was in den USA die Form einer Eskalation zwischen Kreationisten und Spaghettimonster angenommen hat, war bei uns eine lebendige Diskussion.
Der Widerstand der Kirche war berechtigt: Es gibt nicht nur das Teaching in religion – das sei den Sonntagsschulen vorbehalten –, sondern auch das Teaching about religion. Und es ist richtig, dass die Antwort auf die Abschaffung des Freifaches Biblische Geschichte die Einführung des Pflichtfachs Religion und Kultur zur Folge hat. Denn Wissensvermittlung über Religion ist in unserer nur scheinbar säkularisierten Welt wichtiger denn je.
Und dies nicht nur, um die Kollisionen der multikulturellen Gesellschaft einordnen und verarbeiten zu können. Natürlich braucht es ein Wissen um Religionen, um den Unterschied zwischen Islam und Islamismus zu verstehen, um den Antisemitismus auf seinem ganzen Hintergrund zu begreifen, um die amerikanische Nahost-Politik besser zu durchschauen.
Aber noch primärer geht es auch darum: Wer sind wir hier? Woran glauben wir, selbst wenn wir den lieben Gott mal aus dem Spiel lassen? Woraus ist unsere Identität gestrickt? Auf welche Bildwelten greift unsere Kultur zurück? Wessen Sprache sprechen wir eigentlich, wenn wir den Mund auftun? Gibt es einen Unterschied zwischen den christlichen Grundwerten und dem, was wir etwas schummrig als „Zivilisation“ bezeichnen? Das meint das ganze kulturell-religiöse Ökosystem: Teichlinge und Uferlinge gleichermaßen.
Dass die gesellschaftlichen Veränderungen hin zur Multikulturalität sich in einer Relativierung der christlichen Werte niederschlagen, betrifft die Kirchen gleichermaßen wie den Rest der Gesellschaft. Um mit den Prozessen in diesem neuen Feld der Konkurrenz verschiedener Werte und Wertsysteme klug und besonnen umgehen zu können, braucht es ein Wissen um Herkunft und Bildwelten der Religionen. Da müssen sich vielleicht auch die Landeskirchen weit über ökumenische Gottesdienste hinaus den Tatsachen stellen.
Die Politiker, die Kirchenleute und die Religionswissenschaftler sind bereits fleißig daran, das Schulfach „Kultur und Religion“ zu definieren und zu konkretisieren. Was ist der Stoff, der hier gelehrt wird, was sind die Mittel, die den Stoff veranschaulichen?
Hier möchte ich uns, die Kultur, mit einbringen. Wir haben zu diesem Thema einiges beizutragen – Kulturschaffende sind Spezialisten für Identitätsfragen. Die Einführung eines solchen Schulfachs darf nicht eine stille bildungspolitische Maßnahme bleiben. Das muss ein Paukenschlag werden, der das Gespräch über unsere ethischen Werte neu lanciert, über die Stoffwelten unserer Romane und Theaterstücke, über die Möglichkeiten und Grenzen unserer multikulturellen Migrations-Gesellschaft, über unsere Bilder und Metaphern.
Aus einem solchen Dialog zwischen Landeskirchen und Kulturschaffenden könnten Kunst- und Kulturaktionen in großartigen Räumen entstehen. Offene, gewagte Diskussionen ließen sich anstoßen. Dies alles wäre eine Chance zur neuerlichen gegenseitigen Befruchtung eines alten Ehepaars: der Kirche und der Kunst. Und wer weiß, vielleicht finden die Kirchen gerade im Gespräch mit Künstlern die Impulse, um mit kleinen oder radikalen Veränderungen ihres eigenen Auftritts nicht zuletzt die Mehrheit wieder in ihre Mitte zu holen.
Ich fasse zusammen:
Meine, unsere Ausführungen verstehen sich als Plädoyer für eine kulturelle Sicht auf die Religion. Religionen sind in solcher Perspektive keine Schutzburgen für Eingeweihte, sondern Orte des kulturellen Ausdrucks. Als solche müssen sie wahrgenommen werden können. Das bedingt neuere, zeitgemäßere, bessere Formen des Nicht-Alltäglichen.
Die Landeskirchen verstehen unter dem Postulat einer Öffnung zu wenig. Denn: Es geht nicht nur um die Öffnung der Gottesdienste für andere Glaubensbekenntnisse und erleichterte Beitrittsszenarien. Räume und Inhalte müssen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Ihr Publikum kulturell einzubinden könnte für die Landeskirchen weitaus wichtiger sein, als ein religiöses Reinheitsgebot.
Eine Kompetenz nicht nur, aber auch der Kirche, religiöse Aktualisierungsformen kulturell einzuordnen, ist notwendig und muss im Dialog entwickelt werden. Dazu bedarf es der Teilnahme, der Neugier und des Engagements von Künstlern sowie der Bereitschaft seitens der Kirchen, sich auf das Gespräch mit ihnen einzulassen.
Wenn wir dieses Gespräch jetzt angstfrei, lustvoll und engagiert beginnen, dann kann daraus mehr werden als mehr oder minder amüsante Scharmützel zwischen fadenscheinigen Wissenschaften und Fliegenden Spaghettimonstern.
War das nun eine Predigt?
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.