Vilnius-Impressionen im Juli 2006
10.08.2006Ulrich Fuchs hat nach seinem Arbeitsbesuch in Vilnius einen von vielfältigsten Eindrücken durchsetzten Bericht verfasst.
Gut, dass Giedrė Kabašinskienė, die Intendantin von Vilnius 2009, vor einigen Tagen anlässlich des Pflasterspektakels in Linz war und wir uns in langen Gesprächen kennen lernen konnten. So kann ich am 26. Juli von Wien aus nach Vilnius aufbrechen und habe gleich eine lange Liste von Gesprächsterminen dabei. Wobei Giedrė und ich uns darüber einig sind, dass es bei einem ersten Besuch in einer Stadt, mit der man kooperieren will, auch darauf ankommt, mal ziellos durch die Quartiere zu gehen, Menschen zu beobachten, zu spüren, wie die Stadt atmet und riecht.Es gibt zahlreiche Reiseführer über Vilnius und Litauen, die in der Vorbereitung mehr oder weniger hilfreich sind, am spannendsten aber ist für mich das Buch von Karl-Markus Gauβ „Die versprengten Deutschen“. Gauβ erzählt auf faszinierende Weise über Vergangenheit und Gegenwart der Stadt.
Am späten Nachmittag angekommen, spaziere ich durch die Altstadt, vorbei an den vielen Kirchen, vorbei an neuen Geschäften internationaler Modeketten und vorbei an vielen Baustellen einsturzgefährdeter alter Häuser – welch ein Kontrast von Alt und Neu! Gegen Abend wird es immer lebendiger in der Stadt, Touristengruppen stehen um die vielen mobilen Verkaufsstände von Souvenirs herum. Hauptattraktion: Bernstein. Die Altstadt ist übersichtlich, man kann sich leicht orientieren, zunächst einmal wirkt die Stadt nicht wie eine Metropole mit 550.000 Einwohner, Zentrum eines Landes mit 3,5 Millionen Einwohner.
Abends in Užupis, einem sehr besonderen Stadtteil von Vilnius: ein Studenten- und Künstlerviertel, das mit dem Pariser Montmartre offiziell verschwistert ist, und sich seit 1997 „Unabhängige Republik“ nennt wie „Christiana“ in Kopenhagen. Es gibt eine eigene „constitution“ mit fünfzehn „Gesetzen“, darunter „In jedem Frühling werden alle Vorurteile verbrannt“ oder „Jeder hat das Recht unglücklich zu sein“. Früher war Užupis ein ziemlich heruntergekommener Stadtteil, in dem junge und alte Leute mit sehr geringem Einkommen lebten, heute ist es schick und sehr gefragt, hier zu wohnen, immer mehr Häuser werden sehr schön renoviert und es entsteht eine sehr urbane Atmosphäre.
Es ist nicht ganz einfach, das Holocaust-Museum im Haus der jüdischen Gemeinde und das Jüdische Museum, das über die gesamte Geschichte der Juden in Litauen informiert, zu finden. Erst nach intensiver Stadtplan-Befragung und dank hilfreicher Passanten gelingt es. Vilne, wie die Stadt auf jiddisch hieβ, war mit seinen 105 Synagogen und den 200.000 Juden, die 1939 zu 40% die gröβte Gruppe der Einwohner stellten, das „Jerusalem des Nordens“. Heute gibt es noch eine Synagoge und 4000 Juden in der Stadt. Die NS-Vernichtungspolitik hat in Litauen mit schlimmsten Pogromen unendliches Leid geschaffen. Die Spuren dieser Politik prägen die Stadt auch heute.
Radikaler Sprung in die Gegenwart: Das „Centre of Contemporary Art“ befindet sich mitten in der Stadt, in einem Gebäude, das mich an alte Kinos aus DDR-Zeiten in Ost-Berlin erinnert. Den Direktor habe ich schon einmal in Linz zur Eröffnung der O.K-Ausstellung „biennale cuvée“ getroffen. Von Martin Sturm weiβ ich, dass die beiden Einrichtungen gemeinsame Pläne für 2009 haben. Auf der Fassade ist gerade eine Ausstellung von Redas Diržys angekündigt: „Commemoration of ‚Don’t take Lithuanias Name in vain’, or Vilnius, a European Capital of Culture“. Die Ausstellung setzt sich kritisch mit einer von litauischen Künstlern befürchteten Tendenz auseinander, das Kulturhauptstadtjahr zu stark auf die im Jahr 2009 zu begehende 1000jährige Geschichte des Landes zu orientieren. Ich staune nicht schlecht, als ich inmitten der Ausstellung ein groβformatiges Foto entdecke, auf dem der Linzer Bürgermeister Franz Dobusch einen litauischen Künstler im Linzer Rathaus begrüβt. Immerhin: Linz ist in Vilnius bereits prominent anwesend!
Ich treffe Violeta Podolskaite, der ich zum ersten Mal im Mai 2006 in Linz begegnet bin. Sie war als Präsidentin des litauischen Kinder- und Jugendtheaterverbandes beim „schäxpir“-Festival und macht sich gemeinsam mit Stephan Rabl schon Gedanken, wie Kinder- und Jugendtheater aus Vilnius im Jahr 2009 in Linz präsent sein kann. Das „Jaumas Teatras“, das gröβte von vielen Jugendtheatern der Stadt, hatte einmal 45 (!!) Ensemblemitglieder, heute immerhin noch 20. Von ihr erfahre ich viel über die problematische Situation von Kindern und Jugendlichen in Litauen, deren Väter aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit oft monatelang in anderen europäischen Ländern arbeiten.
In den langen Gesprächen mit Giedrė Kabašinskienė und den für die Kulturpolitik in der Stadt Verantwortlichen wird mir klar, wie ungleich schwieriger es in Vilnius als in Linz ist, die Bedeutung des Projekts Europäische Kulturhauptstadt als Stadtentwicklungsprojekt in die Öffentlichkeit zu vermitteln. Die Infrastruktur- und vor allem die sozialen Probleme in der litauischen Gesellschaft sind so gewaltig, dass es nicht einfach ist, deutlich zu machen, dass die besondere Herausforderung des Jahres 2009 auch dafür ein Katalysator sein kann. Im September wird das Kulturhauptstadtbüro in Vilnius seine Arbeit beginnen können. Auf einige vorhandene Kontakte zwischen Linzer und Wilnaer Kultureinrichtungen können wir bauen: das O.K, das Landesmuseum, die Musikschule, das Lentos, schäxpir, das Bruckner Orchester, Crossing Europe und einige mehr sind schon in Gesprächen mit ihren Partnern in Litauen. Wir sind uns darüber einig, dass es viel besser ist, wenn gemeinsame Projekte nach dem Prinzip „bottom–up“ entstehen als umgekehrt.
Judith Lewonig lebt seit vielen Jahren in Vilnius und kennt Litauen, Lettland und Estland samt deren Sprachen sehr gut. Sie ist österreichische Journalistin und schreibt für verschiedene Medien. Unter anderem hat sie auch über die Radreise des Ehepaars Fischer von Linz nach Vilnius und retour berichtet. Von ihr erfahre ich viel über die litauische Gesellschaft, Politik und Kultur. Warum werden eigentlich die häufigen personellen Wechsel in den jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas bei uns nur unter dem Aspekt der politischen Instabilität gesehen und nicht auch als Ausdruck einer funktionierenden demokratischen Kontrolle? Judith Lewonig wird in Zukunft in unregelmäβigen Abständen über Vilnius und das Kulturhauptstadt-Projekt auf unserer Website berichten.
Vom Hauptbahnhof aus verkehren Autobusse nicht nur in die nähere Umgebung der Stadt, es fahren auch groβe bequeme Fahrzeuge in andere europäische Städte: nach Berlin, Amsterdam, Paris, Brüssel und Wien. Ob es nicht parallel zu den Bemühungen um eine direkte Flugverbindung Vilnius-Linz auch sinnvoll wäre, im Jahr 2009 eine direkte Busverbindung Linz-Vilnius-Linz einzurichten, damit auch Menschen mit schmaleren Geldbörsen unterwegs sein können?
Im Juli und August findet jedes Jahr das „Christopher Festival“ in Vilnius statt – der heilige Christophorus ist übrigens der Schutzheilige der Stadt. Klassische und moderne Musik an vielen Spielstätten, vor allem in den Kirchen. Über die vorwiegend katholischen und russisch-orthodoxen Kirchen der Stadt lieβe sich ein eigenständiger Aufsatz schreiben. Alle Stilrichtungen des Barock sind vertreten. Am Sonntag Vormittag, aber auch unter der Woche um 18 Uhr, ertönen alle Glocken und rufen zum Gottesdienst.
Überall in der Stadt: erstes Heimspiel des FC Vilnius! Aber Fuβball ist längst nicht so populär wie der Nationalsport Basketball. Die litauische Mannschaft ist Europameister.
Čepelinai ist ein litauisches Nationalgericht – mit Fleisch gefüllte Kartoffelknödel, die von ihrer Form her an Zeppeline erinnern. Mehr überzeugt war ich von Šaltibarščiai – eine sehr schmackhafte kalte Rote-Beete-Suppe mit Ei und Buttermilch. Passt vielleicht auch besser zum hochsommerlichen Wetter!
Wie erfreulich, dass die Geschäfte in Vilnius jeden Tag von 8 Uhr bis 23 Uhr geöffnet sind, so kann ich noch das hervorragende Schwarzbrot und eine Flasche litauischen Wodka einkaufen. Die Öffnungszeiten gelten übrigens auch am Sonntag, Restaurants und Cafés sind belebt wie unter der Woche.
Der internationale Flughafen von Vilnius liegt 6 km von der Stadt entfernt und auf der Fahrt dorthin versuche ich mir vorzustellen, wie sich die Bilder der Stadt bis 2009 verändert haben werden.
Ulrich Fuchs